Sonntag, 19. April 2015
Es ist komplizierter
Ein Mädchen im Strickkleid, ein Junge, der gerade einen Helm aufsetzt. Das ist Torsten. Ein Ex-Freund. Unsere Wege trennten sich, als er in die Schule kam und ich noch nicht. Seine Mutter hat in einem Kiosk an der Karl-Marx-Allee Zeitungen verkauft, gleich um die Ecke vom Kindergarten. Das Foto muss 1973 oder 1974 entstanden sein. Zeit genug eigentlich, seinen Namen im Ordner "Vergessen" abzulegen. Aber Torsten war ein Freund, und Freunde vergisst man nicht.

Torsten und ich waren ein bisschen anders als die anderen. Weil wir nicht gern sprachen, konnten wir schon im Kindergarten lesen. Vielleicht hätte eine Brieffreundschaft daraus werden können, doch die gab es später erst, mit einem Fremden in Moskau. Keine Ahnung, was in den Luftpostbriefen stand. Bei unserer einzigen Begegnung hatten wir einander nicht viel zu sagen. Sein Name?

"Der fremde Freund" heißt die Novelle, in der Christoph Hein die Ambivalenzen zeigt, die Spielarten von Nähe und Distanz. Ein Lebensbuch über Beziehungswaisen, über Zustände der Liebe und der Freundschaft unter Umständen - und auch darüber, wie die eine mit der anderen zusammenhängt. Sollte die Liebe am meisten über Freundschaft wissen? Es ist komplizierter.

Das fängt mit den Begriffen an. Bekannte, Freunde, Ex-Freunde, beste Freunde oder "Ziemlich beste Freunde" ... (In Italien heißt der Film übrigens "Quasi Amici". Perfekt.) Wenn jemand, den man ganz kurz nur, fast gar nicht kennt, sich in einer Situation, die einer Prüfung gleicht, verhält wie ein Freund - dann ist er doch mehr als ein Bekannter? Genügt für Menschen, mit denen man das Leben teilt, nicht aber das Bett, das Wort Freunde? Es sind wohl Lebensmenschen, was für ein Versprechen steht, das bereits gehalten wird. Sie sind verwandt im Geiste und vertraut im Fühlen.

Wäre Freundschaft ausschließlich eine Art Wertegmeinschaft - die Welt könnte ihr etwas anhaben. Was sich wandelt, betrifft aber weniger ihr Wesen als die Darstellung und Wahrnehmung. Darum und sicher auch wegen einiger Verunsicherungen im marktwirtschaftlichen Zusammenleben ist sie museumsreif. Im Deutschen Hygiene-Museum Dresden gibt's jetzt "Freundschaft. Die Ausstellung über das, was uns verbindet".

Es wird, so steht es auf der Homepage, unterschieden nach "Befreundeten Staaten", "Verbriefter Freundschaft", Darstellungen in der bildenden Kunst sowie der, wir leben im 21. Jahrhundert, "Erlebniswelt", in der Besucher von Gilgamesch & Enkidu kommend Marx & Engels streifen, um auf die "Möglichkeiten moderner Kommunikationsmedien" zuzulaufen.

Und schließlich, wir sind noch immer im 21. Jahrhundert, geht es unter der Überschrift "Friendship - Do it yourself" um "Phänomene unserer Gegenwart, die schon heute mit dem zukunftsoffenen Potenzial von Freundschaft operieren: mit Crowdfunding und Real Life Super Heroes, mit Flashmobs oder dem Tier als einem denkbaren Freund fürs Leben,"

Autsch, das klingt nach der Horrorabteilung. Und da wir gerade bei Ersatzstoffen sind: Was Facebook tatsächlich verändert hat, ist, dass "Freunde" zur Unterscheidung von Freunden mit Gänsefüßchen unterwegs sein müssen.

Und wo hört die Freundschaft auf? Vielleicht dort, wo sie beginnt: bei sich selbst. Von Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung und Selbstkenntnis schreibt der Alltags-Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Büchlein "Vom Glück der Freundschaft". Interessant wäre, ob das im Laden unter Ratgebern steht oder bei den Geschenkbüchern für jeden Anlass.

Viel mehr aber interessiert mich, was mein Buchstaben-Freund Torsten aus der großen Gruppe heute liest. Und was seine Freunde dazu sagen. JB

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